Wer sind Sinti und Roma?

Ein historischer Abriss

Sinti und Roma leben seit Jahrhunderten in Europa. In ihren jeweiligen Heimatländern bilden sie historisch gewachsene Minderheiten, die sich selbst ‚Sinti‘ oder ‚Roma‘ nennen. Als ‚Sinti‘ werden die Angehörigen der Minderheit bezeichnet, die sich vorwiegend in West- und Mitteleuropa angesiedelt haben, ‚Roma‘ leben zumeist in ost- und südosteuropäischen Ländern. Außerhalb des deutschen Sprachraums wird ‚Roma‘ als Name für die gesamte Minderheit verwendet.

Der Begriff ‚Zigeuner‘ hingegen ist eine in seinen Ursprüngen bis ins Mittelalter zurückreichende Fremdbezeichnung der Mehrheitsbevölkerung und wird von der Minderheit als diskriminierend abgelehnt. Wird er im Kontext historischer Quellen verwendet, so sind die hinter diesem Begriff stehenden Klischees und Vorurteile stets mit zu bedenken. Etymologisch ist der Begriff nicht eindeutig ableitbar. Er beinhaltet sowohl negative als auch romantisierende Bilder und Stereotypen. Daher ist der Begriff zuallererst ein Konstrukt.

fluchtwanderungUm 1300 n. Chr. rief Osman I. zum Glaubenskampf gegen die Byzantiner auf. Er verdrängte Byzanz aus West-Kleinasien und legte den Grundstein zum Osmanischen Reich. Betroffen war auch die Region um das Punjab-Tal, das Urheimatgebiet der Roma. Sein Sohn Orhan organisierte die Verwaltung des neuen Staates und gründete aus Sklaven die Janitscharenarmee, die zum Großteil aus christlich geprägten Sinti bestand. Auch wenn die Roma, meist moslemischen Glaubens, größtenteils gesellschaftlich integriert waren, mussten auch sie Kontingente für die Armee stellen.

Mitte des 14. Jahrhunderts drang die türkische Armee in Europa ein. Kurz darauf tauchten die ersten Roma in Serbien auf, die aus der Sklaverei flüchteten. Die Familien der Roma wurden zwischen den Fürstentümern, den Großgrundbesitzern und den Kirchen im gesamten Balkangebiet aufgeteilt. Jeder, der Land besaß, hatte häufig auch ‚Roma-Sklaven‘. So flohen die Roma erneut aus ihrer Versklavung und gelangten Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts auch nach Mitteleuropa. Schon damals begegnete man ihnen aber auch dort mit Misstrauen. Sie wurden für Vogelfrei erklärt, in Dekreten rief man die Bevölkerung dazu auf, sie zu verfolgen und zu töten. Man verweigerte ihnen das Niederlassungsrecht und erlaubte ihnen nicht, regelmäßigen beruflichen Tätigkeiten nachzugehen. Jahrhundertelang wurden sie so zur Flucht getrieben – zur Fluchtwanderung.

Da sie an vielen Orten in West- und Mitteleuropa nicht willkommen waren, aber über keinen anderen Zufluchtsort verfügten, mussten sich viele in Wäldern verstecken. Die Zufluchtsgebiete wurden so, trotz schlechter Lebensbedingungen, im Laufe der Zeit doch zur Heimat. Die Politik der Regierungen blieb ihnen gegenüber von Widersprüchlichkeiten geprägt: Auf der einen Seite gab es Erlasse, die den Sinti und Roma den Zuzug in Städte und Gemeinden verboten. Auf der anderen Seite kritisierten sie stets die ‚nomadisierende Lebensweise‘, zu der diese Erlasse die ganze Volksgruppe erst zwangen.

In Deutschland sind Sinti und Roma seit über 600 Jahren beheimatet. Die etwa 70.000 hier lebenden deutschen Sinti und Roma sind eine nationale Minderheit und Bürgerinnen und Bürger dieses Staates. Neben Deutsch sprechen sie als zweite Muttersprache die Minderheitensprache Romanes, auch Romani genannt, die weltweit von fast sechs Millionen Menschen gesprochen wird. Anhand von sprachwissenschaftlichen Untersuchungen wurde auch die Herkunft der Sinti und Roma aus Indien nachgewiesen, denn das Romanes ist mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandt. In den jeweiligen Heimatländern der Sinti und Roma entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte vor allem durch der Einfluss der Sprache der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung über 100 unterschiedliche Romanes-Dialekte; so auch bei den deutschen Sinti.
Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts wurden Sinti und Roma in fast allen europäischen Ländern urkundlich erwähnt; in Deutschland erstmals 1407 in der Bischofsstadt Hildesheim. Bereits 1446 verlieh der Rat der Stadt Frankfurt einem „Heincz von Mulhusen zyguner“ das Bürgerrecht.

In dieser Zeit standen die Angehörigen der Minderheit anfangs noch unter dem Schutz der deutschen Obrigkeit, die ihnen ‚Schutzbriefe‘ ausstellte. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts jedoch, als die spätmittelalterliche Gesellschaft an der Schwelle zur frühen Neuzeit eine Phase des politischen und sozialen Umbruchs erlebte, wurden Sinti und Roma wieder zunehmend unterdrückt und verfolgt. Die Zünfte untersagten ihnen die Ausübung von Handwerksberufen, aus zahlreichen Gebieten wurden sie vertrieben.

Dabei fällt auf, dass der Antiziganismus wie der Antisemitismus von Anfang an religiöse Aspekte aufwies, indem man ‚Zigeuner‘ als Heiden, Hexen oder gar als Verbündete des Teufels stigmatisierte. Wie die Juden, so wurden auch die Sinti und Roma in der Folge immer wieder zu Sündenböcken für alle möglichen Missstände gemacht. Allerdings vermitteln die überlieferten Akten, in denen Sinti und Roma lediglich als Objekte staatlicher Maßnahmen erscheinen, ein einseitiges und verzerrtes Bild. Denn parallel zur Politik der Ausgrenzung hat es vor allem auf lokaler und regionaler Ebene vielfältige Formen eines normalen und friedlichen Zusammenlebens von Minderheits- und Mehrheitsbevölkerung gegeben.

Theresiana-TitelKaiserin Maria Theresia von Österreich-Ungarn verfügte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die ‚Sesshaftmachung‘ von ‚Zigeunern‘. Für die Kaiserin bedeutete dieses allerdings nicht allein die Gewährung eines Niederlassungsrechts. Sie verbot den Roma in Ungarn ihre Sprache zu sprechen, erlaubte nur eingeschränkte Eheschließungen und befahl, Roma-Kinder zwangsweise von ihren Eltern zu trennen, um sie für ungarische Eltern zur Adoption freizugeben. Für die Roma bedeutete dies, dass jeder Niederlassungsversuch nunmehr mit der Gefahr verbunden war, sich von ihren Kindern trennen zu müssen, ihre Sprache, Kultur und ihre Familienstrukturen aufgeben zu müssen. In vielen Regionen Deutschlands wurde Maria Theresias ‚Zigeunerpolitik‘ übernommen. Trotz der Abschaffung der Sklaverei in Europa wurden Roma weiter ausgegrenzt. Ohne Bildung und Beruf wurde ihnen das Recht sich niederzulassen weiterhin verweigert. Bettelten ihre Kinder um ein Stück Brot, galten sie sofort als unerwünscht und wurden wieder auf den Weg geschickt, vertrieben und abgeschoben. Aus befreiten Sklaven waren Heimatlose geworden, die durch Europa zogen, nicht aus einem angeborenen Wandertrieb heraus, sondern weil niemand bereit war, sie aufzunehmen und sie nirgends über einen längeren Zeitraum geduldet wurden.

Die Gründung des deutschen Reiches 1871 erlaubte die langfristige Koordinierung antiziganistischer Repressionen, die in der Weimarer Republik perfektioniert wurden. Somit waren die Grundlagen für die dem Völkermord vorangehende Erfassung der Sinti und Roma seitens des NS-Staates geschaffen.

1899 wurde in München eine zentrale Polizeidienststelle gegründet, deren Aufgabe ausschließlich die Überwachung von Sinti und Roma war. 1926 wurde in Bayern das Gesetz ‚zur Bekämpfung der Zigeuner, Landfahrer und Arbeitsscheuen‘ erlassen. Dieses Gesetz sollte es ermöglichen, deutsche Sinti für eine gewisse Zeit in so genannten ‚Arbeitshäusern‘ festzusetzen und ihre Kinder zwangsweise in Kinderheime einzuweisen. Ausländische und staatenlose Roma sollten nach dem Gesetz soforDr. Robert Ritter bei Blutabnahmet abgeschoben werden.

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde 1938 die Münchner ‚Zigeunerdienststelle‘ in ‚Reichskriminalamt zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens‘ umbenannt und es wurde mit der systematischen Erfassung der Roma und Sinti begonnen. Zu diesem Zweck wurde die so genannte ‚rassenhygienische Forschungsstelle‘ gegründet. Die Leitung übernahm der Arzt Dr. Robert Ritter, der Sinti und Roma als ‚kriminelle und asoziale Rasse‘ betrachtete. Er  unterstellte, dass die Roma und Sinti als Volk kriminelle Eigenschaften hätten, die genetisch vererbt würden. Die Kartei, die Ritter und seine Mitarbeiter erstellte, diente der Polizei dazu, die erfassten Familien zu verhaften und in die Konzentrationslager zu deportieren.

Sinti und Roma: Ihre Geschichte und ihr Schicksal sind von den politischen Entwicklungen in Gesamteuropa geprägt worden. Sie besaßen nie einen eigenen Staat oder eine eigene Regierung, die sich für sie einsetzte. Während Hunderttausende Roma und Sinti den Kriegen zwischen den europäischen Staaten zum Opfer fielen, haben sie selbst nie einem anderen Volk den Krieg erklärt.


»Die Zigeunerfrage kann nur als gelöst betrachtet werden, wenn die Mehrheit der sozialen und nutzlosen Zigeunermischlinge in großen Arbeitslagern untergebracht worden ist und der Fortpflanzung dieser Mischlingsbevölkerung ein Ende bereitet ist. Nur dann werden die zukünftigen Generationen des deutschen Volkes von dieser Last befreit sein.«
Dr. Robert Ritter, Leiter der rassenhygienische Forschungsstelle (1938)